xplore Berlin 2013-Erfahrungsbericht von Ponka R.

Xplore Berlin 2013:
Ein dichtes Programm mit 42 Workshops, Konzert, Performance, Playparty, mehr als 200 TeilnehmerInnen – drei Tage voll gepackt mit Begegnungen, Gesprächen und Erfahrungen.

 

Freitag:

Ankommend am ersten Tag und zum ersten Mal dabei, registriere ich zunächst, wer da wie rumläuft. Sehe keine Lack- und Lederuniformierten sondern alltagsgekleidete Menschen mit freundlichen offenen Gesichtern, viel Attraktives, ein Volk, bei dem ich nicht fremdeln muss.

Es geht dann auch gleich los. Das Programm ist sorgfältig zusammengestellt, die drei Tage stehen unter thematischen Überschriften: Sensual – Sexual – Emotional.
Der Einstieg erfolgt für mich über „Eros und Trance“, einer kleinen Anleitung in gegenseitiger Tranceinduktion. Ich schwatze meinen eigentlich skeptischen Partner in einen schwummrigen angetörnten Zustand und freue mich über den guten gemeinsamen Beginn. „Festhalten“ lautet das nächste Thema: nach Anfangsübungen, die eher mit Kräfte-messen zu tun haben, wandelt sich das Ganze beinahe zum Beziehungsseminar. Ein Mann erklärt anderen Männern, wie Frauen gehalten und umarmt werden wollen und wo die Grenzen zu Laschheit und Sich-Aufzwingen verlaufen. Er erklärt zutreffend und einleuchtend – wie gut, dass jemand diese Arbeit macht.

Das Wetter ist heiß, in den Pausen wird auf der Dachterrasse nackt gesonnt. Im begrünten Innenhof gibt es Essen, ein paar Bänke und den Platz für das Pferd. Trotz vieler Menschen auf engem Raum mit wenig Duschen und Toiletten funktioniert alles reibungslos. Das Prinzip Selbstverantwortung und viele HelferInnen im Hintergrund machen’s möglich. Die Atmosphäre ist generell warm und freundlich. Dennoch bin ich froh, ein paar vertraute Gesichter um mich zu haben, wer hier nicht gut für sich sorgt, kann sich in der Menge verloren fühlen.

„Nacktes Reiten“ findet im Hof statt. Was in der Programmheftbeschreibung einigermaßen undurchschaubar klingt, erscheint in der Außensicht als Bild mit paradiesischer Anmutung: nackte Menschen stehen plaudernd in Grüppchen und betrachten, wie jeweils einer von ihnen eine gemächliche Runde auf einem geduldigen Pferd dreht, geführt von einer blonden Schönheit. Die Wedding-Realität repräsentiert sich gleichzeitig durch vier türkische Jungmänner, die versuchen, durch das Gittertor einen Blick auf dieses exotische Treiben zu erhaschen und nicht reingelassen werden.

Überhaupt, Realitäten: in diesen drei Tagen öffnet sich ein utopischer Raum: eine Gesellschaft, in der Nacktheit, Sexualität und BDSM selbstverständlich, sichtbar und (mit)teilbar gelebt werden. Sie werden mit einer solchen Unbefangenheit integriert, dass man völlig vergessen kann, wie sehr sie außerhalb dieser Oase mit Tabus belegt oder zu Konsumzwecken instrumentalisiert werden. Durch den Wegfall des gesellschaftlichen Tabus verschwindet hier nicht die persönliche Schamgrenze, wohl aber jede Schlüpfrigkeit. Wer frei ist, zu tun was er/sie will, braucht sich nicht durch verschämt-lüsterne Grenzüberschreitungen seiner selbst zu vergewissern.

Von Tantra-Seminaren unterscheidet sich die xplore durch die Abwesenheit von Esoterik und natürlich die Einbeziehung von SM-Praktiken, von Swingerclubs durch das Fehlen anonymer Dinghaftigkeit, von anderen BDSM-Orten durch die Abwesenheit starrer Rollen(klischees). Das Fließende, Übergreifende, Experimentelle ist konstituierendes Moment.
Was entsteht, ist - um einen überstrapazierten Begriff zu gebrauchen – eine größere Ganzheitlichkeit. Das gemeinsame Erleben von und Reden über Sexualität und ihre sogenannten dunklen Seiten ist eine zutiefst heilsame Erfahrung. Im Wahrnehmen von sich und anderen als sexuelle, machtgeile, devote und schmerzlüsterne Wesen kehren wir zu einer grundlegenden Menschlichkeit zurück. Auch deswegen sind Achtsamkeit, Respekt und diverse humanitäre Werte in dieser Community oberstes Gebot. Nicht zuletzt ist das Reflektionsniveau hoch, hat BDSM eine politische Dimension: wer bewusst mit Dominanz und Unterwerfung spielen kann, bekommt einen geschärften Blick für gesellschaftliche Machtmechanismen.

Doch zurück zur praktischen Erfahrung: Am Ende des ersten Tages gibt es noch eine Überraschung. Bei der kuschelig klingenden „Sonnenuntergangsmassage“ werden für den speziellen Kick die Passiven zunächst gefesselt und bekommen die Augen verbunden. Statt Massageöl wird dann mit heißem flüssigem Fett massiert, was sich – auf die Haut getropft – etwa so anfühlt wie heißes Wachs, Lust- und Schmerzensschreie inklusive.

Auch das kristallisiert sich im Laufe der Tage als Prinzip heraus: neben Workshops, die eine bestimmte Technik vermitteln, und solchen, die emotionale Erfahrungsräume öffnen, gibt es auch einige, die nur noch einen Rahmen oder eine Situation vorgeben und zu improvisierten Performances mit den Teilnehmenden werden. Irreführende oder kryptische Ankündigungstexte gehören da schon zum Charakter des Spiels mit theatralen Gepflogenheiten.

 

Samstag:

Den zweiten Tag beginne ich mit „Ourobouros“, geleitet von einem charismatischen Lehrer, dem sich vermutlich mindestens die Hälfte der Teilnehmenden, Männlein wie Weiblein, mich eingeschlossen, auf der Stelle zu Füßen oder ins Bett legen würde. Er lehrt eine Methode, mittels Atem, Tönen und intuitiven Bewegungen den (tierischen) Urgrund des menschlichen Körpers zu erforschen. Anschließend bin ich entspannt, konzentriert und energetisch voll aufgeladen, eine hervorragende Einstimmung auf den Tag.

Zur Sache in Sachen „Sexual“ geht es „auf dem Thron“, nämlich beim Facesitting und hinterher beim Schwanz-Bondage. Ersteres gibt eine kurze Anleitung zu Spielvarianten des Queening oder Facesitting und steht ganz im Zeichen von „female Empowerment“. Interessanterweise erlebe ich hier die einzige Situation innerhalb des Wochenendes, in der ich einen Mann/Männer als unangenehm voyeuristisch empfinde, nämlich diejenigen, die keine Übungspartnerin haben (auch insgesamt gibt es bei den Teilnehmenden mehr Männer als Frauen) und deswegen nicht unter einer Frau liegen sondern zuschauend am Rand sitzen. Die Dozentin unterstützt mich verständnis- und humorvoll mit praktischen Ideen, aber so ganz finde ich leider nicht in die Situation hinein.

Beim Schwanz-Bondage geht es zunächst um verschiedene Fesselungstechniken, und alle hantieren mit Seilen und männlichen Genitalien. Dann wird drauflos experimentiert, wie sich das Ganze im eigenen Spiel einsetzen lässt, es wird gekichert, geküsst, zugeschlagen, und man schaut sich gegenseitig Ideen ab.

Anschließend bin ich total geschafft – overkill – zu viele Leute, zu viel erlebt – und kann jetzt nur noch mit einer netten neuen Bekanntschaft Bier trinken gehen.

 

Sonntag:

Der dritte Tag ist thematisch den Gefühlen gewidmet, solchen, die mit BDSM-Spielen, und solchen, die mit generellen grundlegenden menschlichen Themen zu tun haben. Damit öffnet sich der inhaltliche Horizont noch ein Stück weiter, wieder im Sinne der Ganzheitlichkeit. Hier finden sich gleich zwei Workshops, die sich mit polyamoren Beziehungsformen beschäftigen, also mit dem Leben in Beziehungsnetzwerken, in denen mensch zu mehreren Personen emotionale und sexuelle Liebesbeziehungen pflegt. Bei „Contact & Poly“ besticht die Einladung zu einer Contact Jam, bei der die TeilnehmerInnen impulshaft und spielerisch nach Lust und Laune die TanzpartnerInnen wechseln können, bis hin zur Unhöflichkeit. Daraus entstehen sehr dynamische und authentische Bewegungssequenzen.

Der anschließende zweite Workshop zum Thema Polyamorie wird von einer Autorin geleitet. Ihn verlasse ich genervt nach zwanzig Minuten, auf eine Abfolge von Schreibwerkstatt-Übungen habe ich keine Lust.

Was übrigens die Frage der sexuellen Orientierungen angeht, habe ich im Laufe der Tage den Eindruck gewonnen, dass sie auf angenehme Weise keine Rolle spielt. Die Mehrzahl der Teilnehmenden scheint mir heterosexuell, und Bisexuelle, Homosexuelle, Crossdresser sind in genügender Anzahl vorhanden, dass ich mich als Bi-Frau nicht im Hetero-Ghetto fühle.

Unter Mitwirkung von zahlreichen DarstellerInnen findet nachmittags die eigens für diese xplore entwickelte Performance „Ich bin deine Mutter“ von Felix Ruckert statt. In der Mitte des Raums löst eine Still-Szene die nächste ab: Ein Darsteller nach dem anderen – egal welchen Geschlechts – nimmt auf dem angedeuteten Thron Platz und gibt einer/m anderen fürsorglich die entblößte Brust. Derweil stimmen die anderen vielstimmige Chor-Gesänge an, die die eher unerfreulichen Aspekte der Mutter-Kind-Beziehung („You can feel guilty now“) naiv-böse-komisch thematisieren. Insgesamt hat die Performance eher den Charakter einer Workshop-Präsentation, was durchaus zum xplore-Rahmen passt. Ich hätte dem Projekt aber noch ein bisschen mehr Vollendung und Erarbeitungszeit gewünscht.

Im letzten Zeitblock erhält dann ein für diesen Kontext so passendes wie ungewöhnliches Thema riesigen Zulauf, fast 100 Menschen finden sich zusammen, um sich ihrer und aller „Sterblichkeit“ bewusst zu werden. Ein Palliativmediziner führt durch einfache Übungen, die uns das jederzeit mögliche Ende und die Endlichkeit von allem vor Augen halten. Es ist bewegend ohne jeden Kitsch. In solche Obhut möchte man sich zum Sterben begeben können. Still und irgendwie geläutert löst sich die Runde für die Umbaupause auf.

Bei der nächtlichen Abschluss-Playparty ist die letzte Gelegenheit, Gelerntes auszuprobieren oder sich nochmal zu treffen und zu plaudern. Jetzt sind sie auch da, die schwarzen Fetisch-Outfits. Der große Schwelle-Raum ist durch Stellwände in Spielflächen gegliedert, und vor allem ist er – voll. Überall stehen, sitzen, spielen die Leute, gar nicht so einfach, noch einen geeigneten Platz für das eigene Tun zu finden. Wir kommen dann lieber nochmal zu einer der monatlichen Vollmond-Playparties.

Zu guter Letzt: 2013 bot exakt dasselbe Programm wie 2012. Aus einem konzeptuellen Gedanken heraus, der damit zu tun hat, dass man auch nicht zwei Mal in denselben Fluss steigt (chinesisches Sprichwort?). Ändern sich die DozentInnen innerhalb eines Jahres, ändern sich die TeilnehmerInnen, macht mensch im gleichen Workshop andere Erfahrungen als im Vorjahr? Da ich 2012 nicht dabei war, fehlt mir der direkte Vergleich. Aber es ist ein interessantes Gedankenspiel, was ich im nächsten Jahr genauso oder anders machen würde, fände dasselbe Programm wieder statt.

Insgesamt ist es ein Glück zu erleben, dass es für genau diese Themen genau diesen Ort und Umgang damit gibt. Diesen Spielplatz, diesen Freiraum und diese Fülle. Diese Achtsamkeit und diese Neugier. Die Art von Bewusstseins-Erweiterung. Und all die Lust.